Viele Menschen haben von Hochbe- gabten in erster Linie das Bild der kleinen und großen "Nerds" im Kopf, die sich schon früh einem bestimmten Themengebiet verschreiben und darin zu Experten und Spezialisten werden.
Es gibt aber noch andere Persönlichkeitstypen, die Multitalente, Generalisten bzw. Scanner.
Hier sind gleichzeitig mehrere Talente in überdurchschnittlichem Maß vorhanden und die Interessen so breit gestreut, dass die Berufswahl schwer fällt. Man spricht hier auch vom Typ der "Universal-Gelehrten" oder "Renaissance-Menschen" früherer Jahrhunderte, zu denen beispielsweise Leonardo da Vinci und Johann Wolfgang von Goethe gehörten. Der Italiener da Vinci gilt als einer der berühmtesten Universalgelehrten aller Zeiten. Er war Maler, Architekt, Bildhauer, Ingenieur, Mechaniker, Anatom und Naturphilosoph. Goethe war sowohl Jurist, Naturforscher, als auch Verfasser von Jahrhundert-Literatur.
Diese Persönlichkeiten widmeten sich völlig unterschiedlichen Arbeitsfeldern und hatten dabei den großen Vorteil, dass das Wissensniveau in den einzelnen Disziplinen ihrer Talente bei weitem noch nicht so hoch war wie im heutigen Informationszeitalter. Unser Wissen vermehrt sich heutzutage jedoch so schnell und umfangreich, dass allein die Ausbildung und Qualifizierung in einem einzigen Themenfeld sehr lange dauern kann.
Möchte man sich mit seinen Talenten und breiten Interessen aber gern in verschiedenen Disziplinen, Themen oder Berufen betätigen, kostet das entsprechend viel Zeit. Eine berufliche Ausbildung dauert jedoch nicht nur lange, sondern man konkurriert später als Generalist auch mit den Spezialisten der einzelnen Branchen, die sich zeitlich und inhaltlich ausschließlich auf ihre eine Tätigkeit konzentrieren.
Wie auch bei Fünf- oder Zehnkämpfern im Sport bleibt dem Scanner zwangsläufig weniger Zeit für die einzelnen Bereiche, was z.B. bei den olympischen Spielen fairerweise dazu geführt hat, dass die Mehrfachkämpfer nur gegeneinander antreten müssen, aber nicht gegen die Spitzensportler der Einzeldisziplinen. Auf dem Arbeitsmarkt wird darauf allerdings keine Rücksicht genommen.
Viele Multitalente befinden sich daher in einem Dilemma:
Es fällt ihnen schwer sich für einen Weg, ein Lebensthema, einen Beruf zu entscheiden. Anstatt sich über ihre vielfältigen Talente zu freuen leiden sie oft unter ihren vielen Interessen, weil sie nicht wissen, wie sie diese alle unter einen Hut bringen sollen. Wie bereits im Kapitel "Ich fühle mich wie von einem anderen Stern" beschrieben, hat der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow die Entfaltung des eigenen Potenzials als eines der Grundbedürfnisse des Menschen beschrieben. Multitalente können oder wollen sich nicht beschränken, weil das für sie eine Beschneidung ihres Potenzials und ihrer Möglichkeiten bedeuten würde.
Die Entscheidung für das eine Thema und den einen Beruf führt aber zwangsläufig zum Verzicht auf andere, was frustrieren und sogar lähmen kann, wenn man trotz vieler Talente, Interessen und Optionen seinen Weg nicht findet.
Besonders für junge Menschen kann es zu einer enormen Belastung führen, wenn die Dinge nicht so klar und geradlinig verlaufen wie bei den Klassenkameraden oder Kommilitonen. Ihnen fehlen oft
passende Vorbilder, an denen sie sich orientieren könnten.
Für viele Multitalente gibt es den einen Beruf auch gar nicht, der alle ihre Begabungen zur Entfaltung bringen kann und lebenslanges Wachstum ermöglicht.
Eine weitere Hürde liegt darin, dass der Menschenschlag der jeweiligen Branche, die Bezugsgruppe oder "peer group", zum eigenen Persönlichkeitstyp und Wertesystem passen muss. Nicht alle "Parallelwelten" sind kompatibel und geeignet für gleichzeitige Aktivitäten, die Umstellung kann zu extrem sein und zu weit auseinander liegen, sogar wenn nur zwei Branchen aufeinander treffen:
• Die strukturierte, planvolle Ingenieurin mit musikalischem Talent im unkonventionellen Künstlerchaos?
• Die sensible Musikerin mit zusätzlicher kognitiver Hochbegabung im rauen Wind von Wirtschaft und Business?
• Die hochbegabte Idealistin mit starkem Gerechtigkeitssinn, die nur wenig Wert auf Äußerlichkeiten legt, unter gut gekleideten Juristen und dem Motto der Branche "Recht ist nicht gleich gerecht"?
Der Faktor Mensch wird bei Berufsanfängern leicht übersehen oder falsch eingeschätzt und so mancher kehrt seinem Traumberuf den Rücken, obwohl er/sie talentiert ist, aber mit dem System oder dem Menschenschlag nicht zurecht kommt. Der Wechsel zwischen sehr konträren Branchen kann daher schwierig bis unmöglich sein. Wesentlich einfacher ist es in dieser Hinsicht, verschiedene Arbeitsfelder und Berufe innerhalb einer Branche parallel zu betreiben oder abzuwechseln. Viele erfolgreiche Beispiele hierfür findet man in der Kreativbranche. Dort kann man sich als Musiker oder Schauspieler parallel oder sequenziell verschiedenen Berufen widmen, wie z.B. auch als Regisseur, Produzent, Autor, Synchron- oder Hörbuchsprecher, Moderator, Agent, Manager, Dozent etc.
Lösungsansätze für Multitalente
• Begabungstests
Zunächst ist es hilfreich zu wissen, welche Begabungen überhaupt in welcher Ausprägung vorhanden sind, um einzugrenzen, welche man beruflich oder eher als Hobby entfaltet. Weiterhelfen können hier sogenannte Begabungstests, die von erfahrenen Psychologen im Rahmen einer IQ-Testung durchgeführt werden und ein detailliertes Ergebnis zur Ausprägung der einzelnen Talentbereiche liefern.
• Berufsfelder
Gut geeignet sind flexible Berufsfelder, die sich in zeitlich begrenzten Projekten oder im Idealfall in Teilzeit bearbeiten lassen. Das Grundprinzip der Projektarbeit hat sich mittlerweile in vielen Branchen etabliert.
• Angestellter oder Freiberufler?
Im passenden Team, z.B. einer NGO (Nichtregierungsorganisation), eines Unternehmens, einer Stiftung, das mit dem eigenen Wertesystem kompatibel ist, liegt der Vorteil eines Angestelltenstatus nicht zuletzt in der finanziellen Absicherung und des aushandelbaren Zeitrahmens. In Deutschland galten ungerade oder ungewöhnliche Lebensläufe lange Zeit als verpönt. Durch die zunehmende Etablierung der Projektarbeit hat sich das inzwischen geändert und viele Branchen wissen den Wert von Multitalenten zu schätzen.
Eine Freiberuflichkeit bringt wiederum den Vorzug, sein eigener Chef zu sein und sich seine Zeit selbst einteilen zu können. Andererseits birgt sie ein finanzielles Risiko im Krankheitsfall und für die Rentenvorsorge, das man aber entsprechend absichern kann. Auch ein Zusammenschluss mit anderen Freelancern, z.B. als GbR, ist eine Möglichkeit, das Arbeitspensum und Risiko auf mehrere Schultern zu verteilen.
Je nach Branche bieten sich hier z.B. Gutachtertätigkeiten und Projektbeteiligungen an, Aufträge von anderen Unternehmen, Behörden, Kunden und ähnliches.
Das Arbeitsamt bietet kostenlose Schulungen an, in denen man alles lernt, was man für eine erfolgreiche Freiberuflichkeit wissen muss, z.B. Auftragsakquise, Selbstmarketing, Finanzkalkulationen, Steuererklärungen, wo gibt es Gründerzuschüsse etc.
Allerdings kann eine Freiberuflichkeit auch ins Gegenteil führen und je nach Branche und Zwängen, z.B. bestimmte Aufträge annehmen zu müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben, durchaus auch zu
weniger Zeit für andere Tätigkeiten führen.
Eine solche Gefahr besteht vor allem bei einer Firmengründung bzw. Start up. Die umfangreiche Verantwortung für alle Facetten einer unternehmerischen Tätigkeit und z.B. der Mitarbeiterführung, kann
einen hohen zeitlichen Einsatz und den vollen Fokus erfordern, der für einen längeren Zeitraum nur wenig Spielraum für andere Aktivitäten lässt.
Es kommt bei Multitalenten daher auch darauf an, welche Fähigkeiten in welcher Ausprägung überhaupt vorhanden sind. Nicht jedes Talent muss zwangsläufig zur Entfaltung oder zur Perfektion gebracht, nicht alle Interessen mit intensivem Zeiteinsatz verfolgt werden.
Allerdings kann es bei den Betroffenen zu hohem Leidensdruck führen, wenn gerade die stärksten Talente unterdrückt werden müssen und nicht ausgelebt werden können.
Hier kann auch eine serielle Lösung hilfreich sein, in dem man sich z.B. bewußt für eine begrenzte Zeit auf einen bestimmten beruflichen Weg einlässt und nach dieser Zeit zu einem anderen Weg
wechselt.
Das kann eine Portion Mut erfordern und auch zu finanziellen Einbußen führen, aber letztendlich eine wesentlich höhere Zufriedenheit mit sich bringen.
Wie heißt es in dem Sprichwort über Menschen vor ihrem Lebensende so treffend:
"Man bereut nicht die Dinge, die man getan hat, sondern die Dinge, die man nicht getan hat!"
Literaturtipps
Die amerikanische Bestseller-Autorin Barbara Sher hat sich in ihren Büchern ausführlich dem Persönlichkeitstyp Multitalent bzw. Scanner gewidmet und viele Fallbeispiele und Lösungsansätze aus ihrer langjährigen Arbeit als Coachin beschrieben:
Barbara Sher:
• Du musst Dich nicht entscheiden, wenn Du tausend Träume hast
• Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will
• Wie ich herausfinde, was ich wirklich will
(alle dtv Verlagsgesellschaft)
Svenja Hofert:
• Praxisbuch für Freiberufler: Alles was Sie wissen müssen, um erfolgreich zu sein (Gabal)
• Survival-Guide für Selbständige: Raus aus tückischen Fallen: Für mehr Geld, mehr Zeit, mehr Leben (Linde)